Heike Wiechmann - Autorin & Illustratorin

Leseprobe aus dem ersten Kapitel

Altes Land und Neue Liebe

Ronaldo biss zu. »Au!« Pieter zog die Hand zurück. Frau Pieske, die sich gegen seinen Arm gelehnt hatte, kippte nach vorn. »Huuuch!« Die eisgrauen Locken der Endsechzigerin wogten wie Elbwasser bei Windstärke 8. »Du kleiner Schelm!«, kreischte Ronaldo. Geduld! Pieter wartete, bis die beiden sich wieder beruhigt hatten. »So, den Unterschnabel haben wir«, sagte er betont munter. Eine Nachtigall zwitscherte. Kurz wanderte Pieters Blick zur bunten Vogeluhr, die über der Tür des Behandlungszimmers hing. Herrje, schon halb sieben! Er musste sich unbedingt abgewöhnen, nach achtzehn Uhr noch Termine zu vergeben. Zumindest an Patienten, die so viel Aufmerksamkeit von ihm forderten wie Frau Pieske und Ronaldo. Um sieben hatte er einen Tisch bei Da Paolo reserviert. »Kleiner Schelm«, tadelte Frau Pieske liebevoll. Pieter sah sie überrascht an. »Das tat weh«, verteidigte er sich. Dann begriff er, dass der Ara gemeint war. Von wegen Schelm – Ronaldo war ein richtiges Biest. Pieter war in ganz Hamburg-Eppendorf bekannt dafür, seinen tierischen Patienten die Angst vor dem Behandlungstisch zu nehmen. Hunde, Katzen, Hühner, Vogelspinnen, alle ließen sich von ihm beruhigen, wenn die fremden Geräusche und Gerüche der Tierarztpraxis sie in Aufruhr versetzten. Alle – außer Ronaldo. Der Großpapagei nutzte jede Gelegenheit, nach Pieter zu schnappen. Nicht lustig, Araschnäbel wa - ren kräftig, sie konnten Finger brechen. Ob der Vogel ihn nicht leiden konnte? Na ja, nicht jeder passte zu jedem, auch wenn man sich noch so bemühte. Das war bei Tieren genau wie bei Menschen. Pieter fasste die Korrekturzange fester. »Liebe Frau Pieske, halten Sie Ronaldo doch einmal richtig fest«, sagte er freund - lich. »Nah am Oberkörper und nicht zu sehr drücken, sonst bekommt Ihr Liebling keine Luft mehr.« Er schenkte ihr sein schönstes Lächeln. Sie musste jetzt mithelfen, sonst war seine Verabredung in Gefahr, und damit womöglich noch viel mehr. Frau Pieske presste den blau schillernden Ara an ihre im - posante Brust. Ronaldo protestierte keckernd, bis Pieter mit geübtem Griff den Vogelkopf fixierte und rasch einen schma - len Streifen des rechten Oberschnabels abraspelte. Das war der erste Streich, jetzt die andere Seite. »Tut dir das auch nicht weh, Schatz?«, flötete Frau Pieske. »Festhalten!« Zu spät. Ronaldo zappelte, die Zange rutschte ab, ein Blutstropfen sickerte aus dem Schnitt. Frau Pieske quietschte wie ein erschrockener Hamster. »Hat Onkel Kreutzfeldt dich verletzt?« Pieter legte die Zange in die Desinfektionsablage, streifte die Gummihandschuhe ab und warf sie in den Mülleimer. Fertig, endlich. »Wir müssen Ronaldos Schnabel mindestens alle sechs Wochen kürzen, liebe Frau Pieske, sonst blutet er beim Schneiden. Er wächst, weil Ronaldos Leber geschädigt ist. Sie füttern ihn zu fett.« Wie oft hatte er ihr das erklärt? Er würde es ihr auch in Zukunft wieder und wieder predigen. »Bitte achten Sie auf eine gesunde Ernährung, dann wächst der Schnabel deutlich langsamer. Das ist im Grunde ganz simpel, beim Papagei genau wie beim Menschen. Wenig Fett, viel Gemüse, ein wenig Obst und viel Grünfutter. Das hält gesund und schlank.« Frau Pieske schielte betroffen auf ihren Bauch. O Mann, so hatte er das doch gar nicht ... Pieter spürte, wie die Hitze in seine Wangen schoss. Er war achtunddreißig, verdammt noch mal, warum wurde er immer noch rot wie ein kleiner Junge? »Ich meine natürlich Ronaldo«, sagte er schnell. Er warf dem zeternden Ara ein Tuch über den Kopf, verfrachtete ihn in den Transportkorb und holte eine kleine Schachtel aus dem Medikamentenschrank. »Hier sind Tupfer. Damit können Sie die Blutung stillen. Wenn es morgen früh nicht besser ist, rufen Sie mich bitte an.« Das würde Frau Pieske sowieso tun. Pieter seufzte leise. Ronaldos Frauchen war verwitwet, ihr tierischer Gefährte Ersatz für die fehlende menschliche Beziehung. Kein Einzelfall in seiner Eppendorfer Praxis. Traurig eigentlich. Andererseits konnte ein Papagei oder ein Hund ein wirklich treuer Freund sein. Und besser man lebte glücklich mit einem Tier als einsam oder im Dauerstreit mit einem Partner. Oder einer Partnerin. Umso wichtiger, sich gut um die Haustiere zu kümmern. Deren Gesundheit hatte erstaunlich oft eine direkte Auswirkung auf das Wohlbefinden ihrer Herrchen und Frauchen. Während Frau Pieske mit den Knöpfen ihres deutlich zu engen Mantels kämpfte, trug Pieter Ronaldos Korb zur Praxistür. Eigentlich Marions Aufgabe, aber seine langjährige Sprechstundenhilfe hatte schon vor über einer Stunde ihren Feierabend eingeläutet.