Leseprobe aus dem ersten Kapitel
Greta Holm
Altes Land und Neue Liebe
Knaur 2021
Altes Land und Neue Liebe
Ronaldo biss zu.
»Au!« Pieter zog die Hand zurück. Frau Pieske, die
sich gegen seinen Arm gelehnt hatte, kippte nach vorn.
»Huuuch!« Die eisgrauen Locken der Endsechzigerin
wogten wie Elbwasser bei Windstärke 8.
»Du kleiner Schelm!«, kreischte Ronaldo.
Geduld! Pieter wartete, bis die beiden sich wieder beruhigt
hatten. »So, den Unterschnabel haben wir«, sagte er betont
munter.
Eine Nachtigall zwitscherte. Kurz wanderte Pieters Blick
zur bunten Vogeluhr, die über der Tür des Behandlungszimmers hing. Herrje, schon halb sieben! Er musste sich unbedingt abgewöhnen, nach achtzehn Uhr noch Termine zu vergeben. Zumindest an Patienten, die so viel Aufmerksamkeit
von ihm forderten wie Frau Pieske und Ronaldo. Um sieben
hatte er einen Tisch bei Da Paolo reserviert.
»Kleiner Schelm«, tadelte Frau Pieske liebevoll.
Pieter sah sie überrascht an. »Das tat weh«, verteidigte er
sich. Dann begriff er, dass der Ara gemeint war. Von wegen
Schelm – Ronaldo war ein richtiges Biest.
Pieter war in ganz Hamburg-Eppendorf bekannt dafür,
seinen tierischen Patienten die Angst vor dem Behandlungstisch zu nehmen. Hunde, Katzen, Hühner, Vogelspinnen, alle
ließen sich von ihm beruhigen, wenn die fremden Geräusche
und Gerüche der Tierarztpraxis sie in Aufruhr versetzten.
Alle – außer Ronaldo. Der Großpapagei nutzte jede Gelegenheit, nach Pieter zu schnappen. Nicht lustig, Araschnäbel wa
-
ren kräftig, sie konnten Finger brechen. Ob der Vogel ihn
nicht leiden konnte? Na ja, nicht jeder passte zu jedem, auch
wenn man sich noch so bemühte. Das war bei Tieren genau
wie bei Menschen.
Pieter fasste die Korrekturzange fester. »Liebe Frau Pieske,
halten Sie Ronaldo doch einmal richtig fest«, sagte er freund
-
lich. »Nah am Oberkörper und nicht zu sehr drücken, sonst
bekommt Ihr Liebling keine Luft mehr.« Er schenkte ihr sein
schönstes Lächeln. Sie musste jetzt mithelfen, sonst war seine
Verabredung in Gefahr, und damit womöglich noch viel
mehr.
Frau Pieske presste den blau schillernden Ara an ihre im
-
posante Brust. Ronaldo protestierte keckernd, bis Pieter mit
geübtem Griff den Vogelkopf fixierte und rasch einen schma
-
len Streifen des rechten Oberschnabels abraspelte. Das war
der erste Streich, jetzt die andere Seite.
»Tut dir das auch nicht weh, Schatz?«, flötete Frau Pieske.
»Festhalten!« Zu spät. Ronaldo zappelte, die Zange
rutschte ab, ein Blutstropfen sickerte aus dem Schnitt.
Frau Pieske quietschte wie ein erschrockener Hamster.
»Hat Onkel Kreutzfeldt dich verletzt?«
Pieter legte die Zange in die Desinfektionsablage, streifte
die Gummihandschuhe ab und warf sie in den Mülleimer.
Fertig, endlich.
»Wir müssen Ronaldos Schnabel mindestens alle sechs
Wochen kürzen, liebe Frau Pieske, sonst blutet er beim
Schneiden. Er wächst, weil Ronaldos Leber geschädigt ist. Sie
füttern ihn zu fett.« Wie oft hatte er ihr das erklärt? Er würde
es ihr auch in Zukunft wieder und wieder predigen. »Bitte
achten Sie auf eine gesunde Ernährung, dann wächst der Schnabel deutlich langsamer. Das ist im Grunde ganz simpel,
beim Papagei genau wie beim Menschen. Wenig Fett, viel Gemüse, ein wenig Obst und viel Grünfutter. Das hält gesund
und schlank.«
Frau Pieske schielte betroffen auf ihren Bauch.
O Mann, so hatte er das doch gar nicht ... Pieter spürte,
wie die Hitze in seine Wangen schoss. Er war achtunddreißig,
verdammt noch mal, warum wurde er immer noch rot wie
ein kleiner Junge?
»Ich meine natürlich Ronaldo«, sagte er schnell. Er warf
dem zeternden Ara ein Tuch über den Kopf, verfrachtete ihn
in den Transportkorb und holte eine kleine Schachtel aus
dem Medikamentenschrank. »Hier sind Tupfer. Damit können Sie die Blutung stillen. Wenn es morgen früh nicht besser
ist, rufen Sie mich bitte an.«
Das würde Frau Pieske sowieso tun. Pieter seufzte leise.
Ronaldos Frauchen war verwitwet, ihr tierischer Gefährte
Ersatz für die fehlende menschliche Beziehung. Kein Einzelfall in seiner Eppendorfer Praxis. Traurig eigentlich. Andererseits konnte ein Papagei oder ein Hund ein wirklich treuer
Freund sein. Und besser man lebte glücklich mit einem Tier
als einsam oder im Dauerstreit mit einem Partner. Oder einer
Partnerin. Umso wichtiger, sich gut um die Haustiere zu
kümmern. Deren Gesundheit hatte erstaunlich oft eine direkte Auswirkung auf das Wohlbefinden ihrer Herrchen und
Frauchen.
Während Frau Pieske mit den Knöpfen ihres deutlich zu
engen Mantels kämpfte, trug Pieter Ronaldos Korb zur Praxistür. Eigentlich Marions Aufgabe, aber seine langjährige
Sprechstundenhilfe hatte schon vor über einer Stunde ihren
Feierabend eingeläutet. 